HZ Nr. 1514/ 07.03.1997

Unsere Brüder von der Landstraße

Die Obdachlosen - es gibt sie, sie leben in unserer Nähe, sie brauchen Hilfe, aber wer gibt sie ihnen?

 

Es gibt in Hermannstadt eine Armenküche und im Siechenhaus einen Raum, wo Straßenkinder übernachten können. Bald wird im Stadtteil Neppendorf, wie wir berichteten, für Stadtstreicher ein Nachtasyl eröffnet werden, Die Stadt hält sich etwas zugute auf diese philantropischen Einrichtungen. Aber sind sie auch wirklich offen für alle unter denen, die wir als die Ärmsten der Armen bezeichnen?

Es leben nämlich Leute am Rande unserer Gesellschaft, die nicht nur kein Obdach und darum keine Adresse haben, sondern auch keine Papiere, Leute, die in keiner Kartei geführt werden und deshalb nicht einmal das Wenige, das die Gesellschaft für sie tut wahrnehmen können.

Viorel Crasnac ist 17 Jahre alt. Er hat keine Eltern mehr. Eltern habe er nie gehabt sagt er. Viorel steht auf der neuen Zibinsbrücke zwischen Unterstadt und Theresianum und bettelt. Kopf und Oberkörper schwanken hin und her, als ob er an Hospitalismus leide; er murmelt ein paar mitleidheischende Worte vor sich hin, die vom Leben im Waisenhaus handeln, aus dem er durchgebrannt ist. Angesprochen, setzt die Bewegung des Oberkörpers von einem Augenblick zum anderen aus. Wo er übernachte? Da, im Kanal. Viorel zeigt auf einen Quadratmeter großen Einstiegsschacht unweit der Brücke. Nein, so groß sei das Rohr nicht, man müsse schon auf allen Vieren kriechen, zumindest streckenweise. Da sei es aber warm und gut. Arbeit? Ja, die kennt Viorel. Er hat schon gearbeitet. Schafe und Ziegen hat er gehütet. "Ich bin aus dem Heim in Ocna durchgebrannt, weil man mich geschlagen hat. Nein nicht die Lehrer, die großen Kinder haben mich geschlagen. Ja, ich rauche, aber Zuika trinke ich nicht. Nur Wasser und Saft Oder Kaffee. Aber ich werde schon bald ein Mann sein. Ich bin kein Kind mehr. Der Bart wächst schon. Mein Freund Nicolae hat auch einen großen Bart und lange Haare. Auch er übernachtet mit mir, hier, im Kanal. Nein, Papiere habe ich keine. Ob ich für eine Zeit in einem Asyl wohnen möchte? Ah, duschen? Ich habe schon einmal geduscht. In dem Block gegenüber, siehst du? Die Leute dort haben mich einmal duschen lassen. Lesen und schreiben? Sicher hab' ich das gelernt. Bin mal eins ist eins, zweimal drei ist vier. Ich habe auch schon bei der Müllabfuhr gearbeitet. Sie haben mich gut bezahlt. Fünftausend und tausend, fünftausend und tausend, so haben sie mich bezahlt. "Viorel blickt eine Zeitlang in das trübe Wasser des Zibins. Als er sich wieder den Leuten zuwendet die an ihm gleichgültig vorübergehen, sagt Viorel voller Teilnahme: "Siehst du, alle sind arm. So ist das Leben."

Nicolae, der zusammen mit Viorel im Kanal wohnt, ist 42 Jahre alt. Er hat eine Gefängnisstrafe hinter sich. Seit der Entlassung hat er kein Obdach und außer Viorel keinen Freund mehr.

Iulian, 38, trägt unter der gefütterten Jacke einen dicken Wollpullover. Er hat eine langhaarige Pelzmütze geschenkt bekommen. Um seine Boxernase sprießt ein rötlicher Stoppelbart. Sein Vater hat sich in den siebziger Jahren zur Pflege "übergeben", wie man das in Hermannstadt nennt das heißt, er hat Haus und Hof einem rüstigen Ehepaar überlassen, damit es für ihn bis an sein Ende sorge. Der damals gerade erwachsen gewordene Sohn wurde mit 25.000 Lei ausbezahlt, Über die Frau, mit der er zusammen lebte, solange das Geld reichte, läßt er auch heute, nachdem sie ihn längst verlassen hat nichts kommen. Iulian ging als Knecht zu einem Fuhrmann, der die Flußsteine, den Sand, den Zement und den Kalk für die vielen Neu-, All- und Umbauten im Viertel herankarrte. Er verstand etwas von Pferden. In ihrem Stall nächtigte er. Aber dann - es war in den achtziger Jahren - gab der Fuhrmann das Geschäft auf und wurde Nachtwächter, und Iulian mußte den Beruf wechseln: Er hob Gräben aus und machte den Handlanger auf dem Bau. Auf neue Aufträge wartete er im Wirtshaus an der Ecke.

Nach der Revolution, als das Wirtshaus zu einer Tag-und-Nacht-Kneipe umgewandelt wurde, übernahmen ihn die neuen Betreiber mitsamt dem Inventar. Im Sommer schläft Iulian im Freien. Er bettelt nicht. Er nimmt einen Schnaps an und eine Zigarette, mehr nicht. Wenn er selber mal zu Geld kommt, gibt er einen aus. Iulian hat von Pfarrer Weiß gehört und von dessen Anstalt für Alkoholabhängige in Kleinscheuern. Da möchte er hin. Auch wenn er dort nicht mehr trinken darf, wenn man ihm nur die Zigaretten läßt. In das Obdachlosenheim, das bald eröffnet werden soll, will er nicht. ‹Da kriegt man ja Ungeziefer!" In der Kneipe, wo Iulian zu Hause ist, sitzt ein hochgewachsener, barhäuptiger Mann mit Jesusbart vor seinem Glas und beschwert sich bei jedem, der es hören will, man habe ihn nicht zum Essen eingeladen. Dabei sei doch Sonntag. Auch er ist ein Dauergast hier. Er hat zwei Tage lang Arbeit geb acht: Er hat für jemanden einen alten Baum gefällt und kleingesägt. Da hatte er für einige Tage Geld.

Jeden Sonntags mittag ruft er bei seiner Schwester an und fragt nach dem Befinden. Gewöhnlich wird er dann zum Essen eingeladen. Diesmal aber nicht. Das versteht er nicht, er hat doch sonst niemanden!

Viorel, lulian und Nicolae leben am Rande der Gesellschaft. Doch auch für sie, unsere Brüder von der Landstraße - wie sie Friedrich von Bodelschwlngh genannt hat - gilt das Fürsorgeangebot der Gesellschaft. Daß sie es nicht wahrnehmen können, liest an ihrer fehlenden Sozialisation. Um zum Beispiel in den Genuß. eines Abonnements In der Armenküche zu gelangen, müßten sie einen Antrag stellen. Aber um den Antrag zu Papier zubringen, müßten sie schreiben können, was sie nie richtig gelernt haben. Und zuallererst: Sie müßten Papiere haben, sich ausweisen können. Doch niemand ist da, der ihnen in ihrer verzwickten Lage helfen könnte. Oder doch?

 

Wolfgang FUCHS

 

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Dokument: ../hz/1514_1.htm, letzte Änderung 21.12.97, Autor: Michael Kothen