HZ Nr. 1522/09.05.1997

Kein Geld und kein Konzept

Das rumänische Gesundheitswesen ist schwerkrank

In der Nacht vom 22. zum 23. April wurde in Bukarest ein todkranker Mann aus dem Rettungswagen auf die Straße abgeladen. Der Fahrer und die Assistentin hatten mit dem 52-jährigen Constantin Nica bereits drei Krankenhäuser angefahren, die sich alle geweigert hatten, den Kranken aufzunehmen. Nica war am Abend in der Notaufnahme des St. Pantelimon-Krankenhauses gelandet, wo er gewaschen und geröntgt und mit einem Infusionsbeutel versehen wurde. Der diensttuende Arzt versuchte, den Tbc-verdächtigen Patienten noch in derselben Nacht wieder loszuwerden. Er rief den Rettungswagen herbei, der mehrere Stunden lang vergebens ein aufnahmewilliges Krankenhaus für den "Penner mit Ausweis" (so einer der angefragten Ärzte) suchte. Die ratlose Assistentin beschloß schließlich, den schon bewußtlosen Mann nach Hause zu fahren, doch den im Personalausweis angegebenen Wohnort gab es für Nica seit Jahren nicht mehr. So entledigte sich das Rettungsteam des Patienten auf dem Gehsteig in der Nähe der angenommenen Wohnung. Morgens um fünf fanden Passanten den Toten im Pyjama, mit dem Infusionsbeutel neben sich, und wenige Schritte weiter lag seine Krankenakte.

Der Fall Nica schlug Wellen nicht nur in der gesamten rumänischen Presse, er löste auch ein kleines Erdbeben im Gesundheitsministerium aus. "Evenimentul zilei" hält die Absetzung des Gesundheitsministers Stefan Dragulescu für ausgemacht und weiß auch schon, wer sein Nachfolger sein wird: der derzeitige Chef der Bukarester Gesundheitsdirektion, Alexandru Ciocalteti (ein PNTCD-Mitglied).

Die Kriminalnachrichten aus dem Gesundheitswesen häufen sich. So entdeckten Journalisten in einer Klausenburger Klinik 15 Säuglingsleichen in einem Formolbad. Die Leichen waren seit September in der Formolwanne geparkt, weil es sich um unidentifizierte Kinder handelt, die nach rumänischem Recht - so die Entschuldigung der Klausenburger - erst nach Feststellung der Identität beerdigt oder eingeäschert werden können. Andere Kinderkrankenhäuser haben - fanden die Journalisten von "Adevänei" heraus - für diesen Fall Massenfriedhöfe angelegt.

In den Massengräbern auf einem Feld bei Pipera neben Bukarest hat der orthodoxe Priester im letzten Jahr rund 600 in den Bukarester Kliniken verstorbene und von ihren Eltern verlassene, z.T. nicht identifizierte Kinder beerdigt. Immer mehr Mütter bringen ihre unerwünschten Kinder erst gar nicht mehr in die Kliniken. Der ans Mittelalter erinnernde Kindesmord gleich nach der Geburt wird, obwohl er mit Gefängnis bestraft wird, von immer mehr Frauen als Mittel der Geburtenkontrolle benutzt. Mütter stecken ihre Säuglinge in Plastiktüten und schnüren sie am Hals des Kindes mit Gummiband zu, sie werfen ihr Neugeborenes aus dem Fenster des Wohnblocks, sie zerstechen es mit der Schere und buddeln es in die Mülltonne ein oder sie werfen es in den Fluß.

Vor dem Untersuchungsrichter geben die meisten an, sie wüßten nicht, wie sie das Neugeborene hätten ernähren sollen und sie hätten auch kein Geld für den Schwangerschaftsabbruch gehabt. Die Adoption, dank derer nach 1989 viele unerwünschte Kinder gerettet werden konnten, ist mittlerweile viel zu kompliziert und schikanös vor allem für Ausländer geworden, so daß es sich für arme Mütter nicht mehr "lohnt", ihr Kind gesund auf die Welt zu bringen und zu pflegen, bis sich eine Adoptivmutter findet.

Die Situation der in staatliche Heime eingelieferten Kinder hat sich - wie unlängst auf einer UNESCO-Konferenz zum Thema in Bukarest zu hören war - nicht wesentlich verbessert, die Krankenhäuser haben nach wie vor kein Geld für Medikamente und Essen in ausreichender Menge, die Gesundheitsreform ist in Ansätzen steckengeblieben, das System der Krankenversicherung gibt es nur auf dem Papier, und die staatliche Förderung von privaten Heimen und Kliniken bleibt weitgehend dem Zufall und dem Goodwill der Sanitätsbeamten überlassen.

Rumänien hat mittlerweile die niedrigste Lebenserwartung und die höchste Kindersterblichkeit in Europa, und die Situation wird sich mit den drastischen Sparmaßnahmen des Kabinetts in den nächsten Monaten nur noch verschlechtern. Die Regierung Ciorbea hat aber nicht nur kein Geld, sie hat offenbar auch kein Programm für die Gesundung des Gesundheitswesens.

Annemarie WEBER


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Dokument: ../hz/1522_5.htm, letzte Änderung 21.12.97, Autor: Michael Kothen